28. Januar 1938: 432,7 km/h auf öffentlicher Straße ein Rekord fast für die Ewigkeit
Das Motorsportjahr 1937 läuft zunächst absolut vorzüglich für Mercedes-Benz: Die Marke gewinnt überragend die Grand-Prix-Europameisterschaft. Das will sie mit einem ebenso fulminanten Geschwindigkeitsrekord ergänzen. Doch dieses Vorhaben misslingt. In der Rekordwoche von Frankfurt am Main im Oktober 1937 kann der Rekordwagen W 125 mit 5,6-Liter-V12-Motor die konkurrierenden Fahrzeuge der Auto Union nicht übertrumpfen. Die Stuttgarter Marke zieht das Fahrzeug aus dem Wettbewerb zurück und beschließt, den Rekordwagen für einen nächsten Versuch umfassend weiterzuentwickeln. Innerhalb von nur acht Wochen bringen Rudolf Uhlenhaut, der technische Leiter der Rennabteilung, und Entwicklungsvorstand Max Sailer die notwendigen Arbeiten auf den Weg. Stattfinden wird die nächste Rekordfahrt am 28. Januar 1938.
Die Vorgaben an die Ingenieure lauten: Fahrgestell und Motor modifizieren und eine völlig neue Karosserie entwickeln. Der Grund dafür ist vor allem ein zu großer Vorderachsauftrieb der Version von 1937, der zeitweise sogar zum Verlust der Lenkfähigkeit geführt hat.
Aerodynamik: Anregungen aus dem Flugzeugbau
Für die neue Karosserie erhält Mercedes-Benz wichtige Impulse aus der Flugzeugindustrie: Unter anderem aus den Entwicklungsabteilungen der Flugzeugwerke von Ernst Heinkel und von Willy Messerschmitt kommt die Empfehlung, den vorderen Überhang zu verkürzen und die Front runder zu gestalten. Zudem wird die Front weiter nach unten gezogen und läuft an der Spitze steiler aus. Das senkt wie erwünscht den Vorderachsauftrieb.
Ein längeres und stärker angehobenes Heck reduziert den Auftrieb an der Hinterachse. Außerdem wird der Querschnitt des Wagens stärker abgerundet, was die Seitenwindempfindlichkeit reduziert. Schließlich entsteht eine runde, dem Grundriss und Querschnitt eines Tropfens nachempfundene Cockpitverglasung. Bisher hatte Rennfahrer Rudolf Caracciola, Europameister der Jahre 1935 und 1937, eine solche Scheibe wegen des Risikos der Sichtverzerrung ablehnt. Nun findet Mercedes-Benz gemeinsam mit einem Zulieferer eine optisch wie aerodynamisch befriedigende Lösung. Die konsequente Stromlinienform des Fahrzeugs wird zudem durch die verkleideten Radausschnitte betont.
Motorkühlung: Eiswasser statt Fahrtwind
Auffällig ist der geringe Durchmesser der Lufteinlassöffnungen in der Front der Stromlinienkarosserie. Dies wird durch die Eiskühlung des Rekordwagens möglich. Dabei befindet sich der Kühler in einem Behälter mit 48 Liter Wasser und fünf Kilogramm Eis. Zusätzliche Kühlwirkung kann bei Bedarf durch Trockeneis erzeugt werden. So entfällt die Kühlerdurchströmung mit Luft, die sich in einem deutlich höheren Luftwiderstand des Fahrzeugs bemerkbar machen würde.
Die Anregung für die Eiskühlung kommt von der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof. Wie erfolgreich die Ausrüstung des W 125 Rekordwagens mit der neuen Karosserie ist, zeigen vier Jahrzehnte später ausgeführte Messungen im Mercedes-Benz Windkanal. Dort erreicht der Silberpfeil in seiner Fahrkonfiguration einen Luftwiderstandsbeiwert von cW = 0,170.
Der bei den abgebrochenen Rekordversuchen im Oktober 1937 eingesetzte V12-Motor mit 5.577 Kubikzentimeter Hubraum wird komplett zerlegt und optimiert. Unter anderem soll durch eine Anreicherung des Verbrennungsgemischs und verstärkte Kolbenbolzen seine Zuverlässigkeit erhöht werden. Zu den weiteren Maßnahmen gehören auch vernickelte Kolbenböden, um das Risiko von Verschmorungen zu senken. Außerdem wird das Kolbenspiel erhöht. Schließlich sorgt Georg Scheerer in der Motorenwerkstatt der Rennabteilung für eine gleichmäßige Gemischversorgung der einzelnen Zylinder.
Prüfstandsläufe bestätigen den Erfolg sämtlicher Arbeiten. Eine Leistungsmessung vor dem Einbau des Motors ins Fahrzeug ergibt am 29. Dezember 1937 eine Leistung von 525 kW (714 PS) ohne Zusatzschiebervergaser. Zusammen mit diesen zusätzlichen Vergasern würde die Leistung rund 563 kW (765 PS) betragen, teilt Scheerer am 6. Januar 1938 mit. Das sind 21 kW (29 PS) mehr, als der Motor bei den Rekordversuchen acht Wochen zuvor erreicht hat.
„Der Wagen liegt herrlich auf der Straße“
Es ist eine Rekordfahrt, wie sie bislang noch niemand gewagt hat. Es lohnt sich: Auf der im Mai 1935 eröffneten Autobahn zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt, der späteren Bundesautobahn A 5, erreicht Rudolf Caracciola am Morgen des 28. Januar 1938 kurz nach 8 Uhr die bis dahin schnellste auf einer öffentlichen Straße erzielte Geschwindigkeit: Er kommt über den Kilometer mit fliegendem Start auf 432,7 km/h und bricht auch den Rekord für die Meile mit fliegendem Start auf 432,4 km/h. Ermittelt werden die Geschwindigkeiten jeweils als Mittelwert von Fahrten in beide Richtungen. Caracciola lobt in seiner späteren Biografie das Fahrzeug: „Der Wagen liegt herrlich auf der Straße. Ich merke es schon auf der Anlaufstrecke. Es ist ein ganz anderes Fahren als mit der Konstruktion im vorigen Jahr.“ Dies demonstriert eindrucksvoll den Erfolg der Aerodyamikoptimierung mit der grundlegend neu entwickelten Stromlinienkarosserie.
Dunkler Schatten: tödlicher Unfall des Auto-Union-Rennfahrers Bernd Rosemeyer
Die Auto Union versucht noch am gleichen Tag, diesen neuen Mercedes-Benz Rekord zu brechen. Doch Bernd Rosemeyer, der erfolgreichste Rennfahrer des Konkurrenzunternehmens, verunglückt dabei tödlich. Sein Fahrzeug wird in voller Fahrt von einer Windböe erfasst und von der Fahrbahn gedrängt.
Der Rekord besteht bis 2017
Fast acht Jahrzehnte lang bleibt der von Caracciola erzielte Geschwindigkeitsrekord auf einer öffentlichen Straße bestehen. Erst am 4. November 2017 wird er übertroffen und auf 445,54 km/h verschoben. Das Fahrzeug (ein Koenigsegg Agera RS, 1.175 PS, 1.280 Nm) hat eine deutlich höhere Motorleistung. Das Originalfahrzeug von 1938 hat heute im Mercedes-Benz Museum einen Ehrenplatz: in der Rekordwagen-Präsentation beim Mythosraum 7 „ Silberpfeile – Rennen und Rekorde“.
Video: JP Kraemer und Matthias Malmedie: Der 12-Zylinder-Rekordwagen W 125
Hier lassen sich die beiden einige technische Feinheiten dieses außergewöhnlichen Rennwagens erklären – so auch die Kühlung zum Beispiel.