Auf dem Weg zum autonomen Fahren: S-Klasse auf Welt-Tournee
Bei allen Betrachtungen zum Thema autonomes Fahren hat man doch häufig die nationale oder bestenfalls die mitteleuropäische Brille auf den Augen. Welche Herausforderungen es neben den technischen Themen zu lösen gibt stellt sich oftmals erst in der Praxis heraus. So hat die Fahrt mit der teilautomatisierten S-Klasse viele Erkenntnisse gebracht, welche Aufgaben noch zu bewältigen sind, bis autonomes Fahren tatsächlichen globalen möglich sein wird.
Unterwegs im länderspezifischen, realen Straßenverkehr ist also eine interessante Herausforderung auf dem Weg zum autonomen Fahren. Das zeigt der Mercedes-Benz Intelligent World Drive, der nach fünf Monaten auf der Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas endete. Ein Erprobungsfahrzeug auf Basis der aktuellen S-Klasse absolvierte eine anspruchsvolle Studienreise auf fünf Kontinenten, um bei automatisierten Testfahrten im realen Verkehr zu „lernen“. Ob Zebrastreifen auf chinesischen Autobahnen, Rechtsabbiegen von der linken Fahrspur im australischen Melbourne, Fußgängerverkehr auf jeder Art von Straßen in Südafrika oder kurzzeitiges Fahrverbot in unmittelbarer Nähe von anhaltenden Schulbussen in den USA – auf jedem Kontinent stand die S-Klasse vor Herausforderungen, die Einfluss auf das Fahrverhalten künftiger autonomer Fahrzeuge haben werden. Diese länderspezifischen Besonderheiten müssen automatisierte und autonome Fahrzeuge kennen und in ihrem jeweiligen Kontext verstehen, um dann richtige Fahrentscheidungen treffen zu können.
Das automatisierte Fahren wird noch einiges in Sachen internationale Harmonisierung von Verkehrsregeln, Verkehrsschildern oder auch Fahrspurmarkierungen erfordern. Ein paar Beispiele über die unterschiedlichen „Gepflogenheiten“….
Intelligent World Drive gibt Einblick in die Komplexität globaler Herausforderungen
Mit dem Erprobungsfahrzeug auf Basis einer teilautomatisierten S-Klasse wurden Testfahrten in Deutschland, China, Australien, Südafrika und den USA durchgeführt. Die Unterschiede in den Ländern geben einen kleinen Einblick in die Komplexität globaler Herausforderungen bei der Entwicklung von automatisierten und autonomen Fahrfunktionen. Insbesondere die landesspezifischen Besonderheiten bei Infrastruktur, Verkehrsregeln sowie dem Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer stellen sehr unterschiedliche Anforderungen an die Sensorik und die Algorithmen des Fahrzeugs. Zudem wird deutlich, wie wichtig hochauflösende Karten für die Entwicklung höherer Automatisierungsstufen werden könnten. Weltweit unterschiedliche Verkehrsschilder und Fahrbahnmarkierungen
Allein bei Verkehrsschildern zur Geschwindigkeitsbegrenzung gibt es viele unterschiedliche Varianten. So haben sie beispielsweise in den USA eine grundlegend verschiedene Form und Größe als die in Europa und China üblichen runden Metallschilder. In Australien werden zunehmend elektronische Displays mit variablen Geschwindigkeitsbegrenzungen eingesetzt. Dabei weisen spezielle Anzeigen auf das aktuell geltende Tempolimit hin. Sie sind mit leuchtend weißen LEDs, einem roten LED-Ring und einer gelben LED-Warnleuchte ausgestattet und können neben Geschwindigkeitsbegrenzungen auch einfache Symbole und Buchstaben abbilden. In einigen Fällen werden sie nacheinander positioniert und können ihre Anzeige innerhalb kurzer Zeit ändern. Dies erhöht die Anforderungen unter anderem an die Kamera und die Qualität der digitalen Karten. Ebenso anspruchsvoll sind Tempolimits, die nur zu bestimmten Uhrzeiten oder sogar Daten gelten.
Ein prägnantes Beispiel für länderspezifische Verkehrszeichen und -regeln ist das „Hook Turn“-Schild im Stadtzentrum von Melbourne. Es regelt den Abbiegevorgang auf Straßen, die auch von Straßenbahnen befahren werden. Wer im dortigen Linksverkehr rechts über die Bahngleise hinweg abbiegen will, muss auf die äußerste linke Spur wechseln und zunächst den Geradeausverkehr und die Straßenbahn passieren lassen, bevor er rechts abbiegen darf. Die Kreuzung kann erst überquert werden, wenn die eigene Ampel auf Rot und die des Querverkehrs auf Grün umschaltet. Die Sensoren und Algorithmen eines automatisierten und autonomen Fahrzeugs müssen in der Lage sein, das „Hook Turn“-Schild zu erkennen, den Kontext des komplexen Abbiegevorgangs zu verstehen und andere Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen.
Auch Fahrbahn- und Spurmarkierungen sind weltweit nicht standardisiert. Der Zebrastreifen hat zum Beispiel in China eine doppelte Bedeutung. In der Stadt markiert er einen Fußgängerüberweg, auf der Autobahn zeigt er dagegen den Mindestabstand zwischen hintereinanderfahrenden Fahrzeugen an. Auf mehrspurigen Interstates und Freeways in den USA existieren häufig eigene Fahrspuren für Fahrgemeinschaften ab mindestens zwei Personen. Sie können sowohl durch zwei gelbe, durchgezogene Linien als auch durch Metallplanken von den anderen Spuren getrennt sein. Für die Fahrzeugsensorik ist es schwer, sie als spezielle Fahrspuren zu erkennen und richtig zu interpretieren. Darüber hinaus gibt es in den USA die sogenannten Botts‘ Dots. Diese Punkte zur Spurmarkierung aus Kunststoff oder Keramik stellen ebenfalls besondere Anforderungen an die Spurerkennung. Daher plant Kalifornien als erster Bundesstaat, die Botts‘ Dots abzuschaffen und die Spurmarkierungen für das zukünftige autonome Fahren zu vereinheitlichen.
Erschwerend kommt hinzu, dass in manchen Ländern Beschilderungen und Fahrbahnmarkierungen teilweise fehlen. So ist es selbst für routinierte Fahrer an einigen Mega-Kreuzungen und in mehrspurigen Kreisverkehren in der chinesischen Metropole Shanghai schwierig, ohne Fahrbahnmarkierungen die richtige Spur zum Abbiegen auszuwählen. In Südafrika stellen fehlende Stopp- oder Warnschilder vor Bodenschwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung Herausforderungen an die Leistungsfähigkeit der Sensorik sowie die Qualität digitaler Kartendaten dar.
Landesspezifische Verkehrssituationen erkennen und im Kontext verstehen
Eine weitere Besonderheit im US-amerikanischen Straßenverkehr sind Schulbusse bzw. die mit ihnen verbundenen Verkehrsregeln. Sobald sie anhalten, muss der Verkehr in unmittelbarer Umgebung ebenfalls stehen bleiben. Kein Fahrzeug darf vorbeifahren, auch nicht in der Gegenrichtung. Automatisierte und autonome Fahrzeuge müssen lernen, die Schulbusse in relevanten Verkehrssituationen von allen anderen Fahrzeugen zu unterscheiden und zu erkennen, ob sie anhalten, um Kinder ein- und aussteigen zu lassen.
Ebenso herausfordernd für die Fahrzeugintelligenz ist das Fußgängerverhalten in Südafrika, das mit dem in Europa, Australien oder USA nicht vergleichbar ist. Hier sind nicht nur viel mehr Fußgänger unterwegs, sie laufen auch häufig direkt auf der Straße und überqueren mitunter unerwartet die Fahrbahn. Künftige Systeme müssen solche Fußgänger auch bei höheren Fahrgeschwindigkeiten zuverlässig erkennen und ihre Bewegung richtig interpretieren. Überholvorgänge auf einspurigen Straßen sind in Südafrika üblich, indem das langsamere Fahrzeug den Seitenstreifen mitbefährt und das überholende Fahrzeug trotz durchgezogener Linie an übersichtlichen Stellen vorbeifährt. Künftige Fahrzeuge müssen lernen, diese Toleranz situationsbedingt zu nutzen. Dafür müssten sie unterscheiden können, ob die Straße frei und übersichtlich genug ist, um zu überholen – oder ob ein Überholvorgang aufgrund von Kurven oder Gegenverkehr zu gefährlich ist.
Eine besondere Herausforderung bezüglich der Gefahr von Wildwechsel stellen zum Beispiel Kängurus in Australien oder Springböcke in Südafrika dar. Je nach Körperhaltung haben sie eine andere Form und sind daher schwer eindeutig zu identifizieren. Der Statistik einer australischen Versicherungsgesellschaft zufolge verursachen Kängurus landesweit neun von zehn Verkehrsunfällen, in die Tiere verwickelt sind.