So entsteht der Fahrcharakter eines Mercedes-Benz

An einem kalten, trüben Dezembermorgen fährt ein Fahrzeug über die Landstraße. Der Fahrbahnbelag ist recht mitgenommen, Schlaglöcher und Spurrillen sorgen für unebene Straßenverhältnisse. Der Fahrer merkt davon nichts. Souverän steuert er das Fahrzeug über die Strecke und durch spitze Kurven. Selbst einem plötzlich auftauchenden Hindernis weicht der Wagen souverän aus, ohne den Puls des Fahrers nennenswert in die Höhe zu treiben. Dieses besondere Gefühl aus Sicherheit, Komfort und Souveränität ist unverkennbar. Er sitzt in einem Mercedes. Die dafür verantwortlichen Entwickler nennen dieses Gefühl den „Mercedes-Benz Fahrcharakter“.

Im Handlingsimulator steht das Thema Sicherheit und Souveränität im Vordergrund (Bild: Daimler AG)

Entwicklung ist Charaktersache

Markus Riedel, Leiter des Centers „Ride & Handling“, bringt die übergeordnete Mission seines Teams auf den Punkt. „Konkret zeichnet sich ein Mercedes durch drei stark ausgeprägte Charaktereigenschaften aus: Bestmöglicher Fahrkomfort, hohe Fahrsicherheit und spürbare Souveränität. Ein Mercedes Fahrer muss in jeder Situation den Eindruck haben, dass sein Fahrzeug noch Reserven hat.“

Zu Beginn eines jeden Entwicklungszyklus wird die gewünschte Ausprägung dieser drei Topeigenschaften, ergänzt um Sportlichkeit und Präzision, in über 90 messbare physikalische Kennwerte übersetzt, u. a. für Vertikal-, Quer- und Längsdynamik. Unzählige Berechnungen, Konstruktionsvarianten und Simulationen an Hochleistungsrechnern sind nötig, bis die auf dem Papier optimalen Kenngrößen in die Zielbeschreibung, sprich in die Spezifikation der Bauteile und Fahrwerkssysteme, einfließen können. „Die eigentliche Kunst des Entwicklungsprozesses liegt darin, dass wir diese Zielkenngrößen so miteinander vereinbaren, dass sie ein komplettes und am Menschen ausgerichtetes Fahrerlebnis schaffen“, erklärt Markus Riedel die Herausforderungen in der Entwicklung des Fahrverhaltens. Denn trotz aller Digitalisierung und Technologie: Entscheidend ist die subjektive Wahrnehmung während des Fahrens.

Das heißt: Alle objektiven Kenngrößen – egal ob berechnet oder gemessen – müssen mit der subjektiven Wahrnehmung interpretiert werden. Nur so entsteht Fahrcharakter.

„Entwickelt wird das moderne Fahrverhalten daher heute durch den Dreiklang aus digitaler Simulation am Rechner, Messungen auf Prüfständen und definierten Straßen sowie dem Feinschliff/-tuning durch die subjektive Abstimmung mit realen Fahrzeugen. Jedes dieser drei Instrumente hat seine Stärken, aber auch seine Grenzen. Die eigentliche Kunst liegt nun darin, sie optimal miteinander zu verbinden.“

Gefühl trifft Physik

Damit die Überprüfung der Berechnungen schon in frühen Entwicklungsphasen, in denen es noch keinen realen Prototypen gibt, effizient ablaufen kann, gibt es in Sindelfingen das Fahrsimulationszentrum. Im sogenannten Ride-Simulator – zwei nebeneinander montierte Sitze auf einem Hexapod mit elektrischen Stellern – arbeiten die Fahrwerks-Experten von Mercedes-Benz z. B. an der Dämpfungsvarianz. Mithilfe von digitalen Fahrzeugprototypen und den Oberflächendaten realer Teststrecken können Fahrer und Beifahrer virtuelle Probefahrten durchführen und überprüfen, wie sie z. B. dieselbe unebene Fahrbahn mit einer komfortabel-weichen oder sportlich-härteren Fahrwerksabstimmung empfinden. „Mit dieser digitalen Transformation sparen wir uns ein bis zwei Abstimmungsschleifen in der Erprobung mit realen Prototypen. Wir haben eine ganze Sammlung voller virtueller Fahrzeuge und Fahrsituationen im Computer, die wir auf Knopfdruck einspielen können“, erklärt Markus Riedel den Aufbau.

Im Ride-Simulator arbeiten die Fahrwerks-Experten von Mercedes-Benz z. B. an der Dämpfungsvarianz (Bild: Daimler AG)

Hier lässt sich buchstäblich am eigenen Leibe ein Phänomen erleben, das aus der Akustik bekannt ist: der Maskierungseffekt. „Wenn man heute in einem ganz normalen Auto auf der Straße unterwegs ist, nimmt man Außengeräusche wie den Fahrtwind kaum wahr, weil sie vom Motorgeräusch überlagert werden. In einem Elektroauto fehlen diese Geräusche – und schon kommt einem der Fahrtwind sehr viel lauter vor,“ erläutert Markus Riedel.

Im Handling- oder auch Moving-Base-Fahrsimulator ein Stockwerk höher steht das Thema Sicherheit und Souveränität im Vordergrund. Mit seiner Kugelstruktur auf einer zwölf Meter langen Schiene, der 360-Grad-Leinwand, Soundsystemen zur Wiedergabe des Fahrgeräusches und einem schnellen elektrischen Antrieb ist er einem Flugzeugsimulator nicht unähnlich. Auch hier dienen die von Hochleistungscomputern erstellten Datensätze dazu, den Probanden möglichst reale Fahrsituationen zu suggerieren. Nur, dass man hier in einem kompletten Fahrzeugaufbau sitzt und selbst beschleunigen, lenken und bremsen kann.

Im Handlingsimulator steht das Thema Sicherheit und Souveränität im Vordergrund (Bild: Daimler AG)

Auf diese Art lassen sich auch dynamische Fahrmanöver wie ein doppelter Spurwechsel oder der Effekt, den ein starker Seitenwind auf das Fahrwerk hat, intensiv erforschen. „Viele denken, dass wir uns hier in der Entwicklung des Fahrverhaltens nur um Lenkung, Bremsen, Dämpfung usw. kümmern. Aber der Handling-Simulator gibt uns auch Aufschluss darüber, welche Bereifung für welches Setup geeignet ist oder ob die Aerodynamik noch optimiert werden muss,“ sagt Markus Riedel. Der große Vorteil von Simulationen: Die Ergebnisse sind immer objektiv und reproduzierbar, während subjektive Bewertungen im realen Testfahrzeug durchaus streuen können. Zusätzlich sind die für das Fahrverhalten notwendigen Steuergeräte gezielt für den Mercedes-Benz Fahrcharakter auszulegen. Für diese Auslegung der Steuergeräte gibt es das Hardware-in-the-Loop-Labor.

Schleife um Schleife zur richtigen Einstellung

Die rapide Zunahme von elektronischen Steuergeräten, die in modernen Fahrzeugen u. a. auch für die Antriebselektronik und das Fahrwerk zuständig sind, erfordert eine ebenso gründliche Erprobung wie das Fahrwerk selbst. Eine Möglichkeit, die Entwicklung dieser Fahrzeugkomponenten zu beschleunigen, ist ein Verfahren namens Hardware-in-the-Loop (HiL), das bei Mercedes-Benz seit dem berühmt-berüchtigten Elchtest mit Nachdruck angewendet und weiterentwickelt wird. Im HiL-Labor werden reale Steuergeräte wie z. B. das ESP mit einem Hochleistungscomputer verbunden, der mithilfe von Computermodellen das Verhalten des Fahrzeugs simuliert.

Ein Beispiel: Das Fahrzeug-Computermodell fährt bei hoher Geschwindigkeit eine Slalomstrecke ab und sendet Sensordaten, die das Fahrzeugverhalten beschreiben, an das ESP. Das reagiert und sendet seinerseits die entsprechenden Steuerungsimpulse an die hydraulische Bremse zurück und erzeugt so an den Reifen genau die Bremskräfte, die notwendig sind, damit das Fahrzeug dem Fahrerwunsch weiter folgen kann. So entsteht ein Regelkreis (Loop).

Auf diese Art lassen sich unzählige Fahrmanöver für verschiedenste Fahrzeugplattformen und alle Fahrwerkssteuergeräte in einer abgesicherten Umgebung wieder und wieder testen. So sind im Steuergerät ESP mittlerweile 22 Funktionen integriert. Diese müssen in rund 900 Manövern erfolgreich getestet werden. Und auch wenn jedes einzelne Manöver in Echtzeit ablaufen muss, lässt sich durch die Einbindung von Hardware-in-the-Loop sehr viel Entwicklungszeit sparen. „Auf einem HiL-Prüfstand können wir in einer Nacht fast 30 Millionen Rechenoperationen durchführen. Allein daran sieht man, was durch die Digitalisierung überhaupt möglich wird. Und hier können wir auch grenzwertige Manöver simulieren, ohne Menschen oder Fahrzeuge zu gefährden“, schildert Markus Riedel den Stellenwert von Hardware-in-the-Loop für die Entwicklung des Fahrverhaltens.

Auf der Teststrecke

An diese Grenzen sollen sich die Erprobungsfahrten im echten Fahrzeug auf realen Strecken natürlich nicht oder nur sehr vorsichtig herantasten. Um allen prägenden Eigenschaften des Mercedes-Benz Fahrcharakters – also Fahrkomfort, Fahrsicherheit, Souveränität, Sportlichkeit und Präzision – den letzten Schliff zu geben, wird auch am realen Fahrzeug getestet und optimiert. „Das ist wie mit einem guten Wein. Man kann ihn chemisch beschreiben, aber das feine Etwas kommt vom Menschen für den Menschen. Die Simulationen sind für uns kein Ersatz für Tests unter Realbedingungen. Aber sie helfen dabei, die realen Prototypen schneller und mit einem höheren Reifegrad auf die echte Teststrecke zu bringen“, begründet Markus Riedel die sich anschließende Entwicklungsphase auf der Erprobungsstrecke.

Auf der Teststrecke (Bild: Daimler AG)

„Auf öffentlichen Straßen wäre eine Erprobung, mit Ausnahme des Fahrkomforts, unverantwortlich“, erzählt Markus Riedel. „Und selbst bei der Optimierung des Federungskomforts verhindert die Verkehrsdichte oder die Breite der Straße, dass man ein und dieselbe Strecke immer gleich und mit gleicher Geschwindigkeit fährt, um vergleichbare Eindrücke zu bekommen. Zudem verschwinden gute Abstimmstrecken zunehmend, denn sie werden glatt asphaltiert. Diese Strecken haben wir vor ihrer Sanierung vermessen und im Computer mit all ihren Senken und Erhebungen, Rillen und Schlaglöchern konserviert. Und auf unseren Teststrecken haben wir diese Straßen originalgetreu nachgebaut. Eine moderne S-Klasse kann und muss sich so z. B. mit ihren Vorgängern auf derselben Strecke messen lassen, von der Simulation bis zur Erprobung im realen Fahrzeug.“

Sogar Kopfsteinpflaster wurde auf einem kurzen Abschnitt der Einfahrbahn in Sindelfingen verlegt. Auf Teststrecken und für den Fahrkomfort auch auf öffentlichen Straßen werden die vorab definierten Fahrwerkseinstellungen mit verschiedenen Parametern unter Realbedingungen optimiert und feingetunt. Beton-Autobahnen bieten z. B. eine besondere Herausforderung. Hier befinden sich in regelmäßigen Abständen Querfugen, die mit Erhöhung der Fahrzeuggeschwindigkeit zu einer immer höherfrequenten Anregung führen. Die Fahrzeuge werden so abgestimmt, dass die Insassenanregungen so gut wie möglich verringert werden.

Kompromisse machen die Ingenieure des Fahrverhaltens nicht gerne: „Wir betreiben hier technologische Entwicklung am Limit und wollen immer alle Fahreigenschaften so weit wie möglich optimieren“, sagt Markus Riedel. „Aber wenn es Zielkonflikte geben sollte, haben Fahrsicherheit, Fahrkomfort und Souveränität bei unseren Entscheidungen immer Vorfahrt vor Sportlichkeit oder Präzision.“ Je nach Fahrzeugplattform kristallisiert sich so nach jahrelanger Entwicklung und unzähligen Testfahrten letztlich genau die Fahrwerksabstimmung heraus, die jedem einzelnen Modell diesen ganz besonderen Mercedes-Benz Fahrcharakter verleiht – damit man auch nach langen Strecken und bei widrigen Bedingungen entspannt ankommt.